Warschauer Pakt 2006

Aktuelle Informationen zur Solidaritätsaktion für den CSD in Warschau (Homepage: www.warschauerpakt2006.de )

12.6.06

Das war erst der Anfang

von Paul Schulz

Ich hab immer noch nicht ausgeatmet als Mutter gestern Abend anruft. „Mann, Junge, jetzt freu dich doch mal. Das habt ihr doch wirklich verdient.“ Recht hat sie. Trotzdem begreife ich erst im Laufe des heutigen Tages: Alles gut. 200 deutsche Gutmenschen per Bus hin und wieder zurück, hervorragende Berichterstattung in den internationalen und deutschen Medien, eine gelungene Parade mit (schätze ICH) zwischen 10.000 und 12.000 Teilnehmern, fünfmal soviel wie im letzten Jahr. Gutes Wetter. Keine Verletzten, keine Toten, nur ein paar Eier und böse Sprüche. Dafür Omas die Blumen vom Balkon schmeißen und Mütter die Kleinkinder im Fenster hochhalten, damit die uns winken können. Eine Abschlussparty mit minimaler Professionalität und vielleicht auch deswegen maximalem Charme. Danach noch Wodka mit Apfelsaft im „Tomba Tomba“, einem der schönsten Clubs der Welt. Kaum geschlafen, sehr viel Spaß gehabt.
Alles hat genauso stattgefunden, wie wir alle uns das vor 11 Wochen gedacht haben, als die erste Delegation mit einer Liste Wünsche und Träume für den 10.Juni aus Warschau wiederkam. Und DAS ist gar nicht so leicht zu begreifen.
Auch wenn’s mir schwer fällt: Ich glaube nicht, das wir Glück gehabt haben. Kommunistisch-protestantisch erzogen wie ich bin, weiß ich: das war Arbeit, meine Damen, Herren und alle anderen. In Warschau, in Berlin, in Europa ist von vielen Menschen viel dafür getan worden worden, damit das so lief. Was auch bedeutet: es geht. Wenn die richtigen Leute, das Richtige wollen und bereit sind, dafür auch etwas zu tun oder zu riskieren, kann man in wenigen Wochen ein wichtiges europäisches Land ein bisschen verändern und einen Diskurs lostreten, der sich nicht einfach wieder abstellen lässt. Endresultat: Das Gefühl gelebter Demokratie. Kostbar, weil selten und gerade deswegen ein toller Ansporn, um weiterzuarbeiten. Denn das, meine Lieben, war erst der Anfang. Und ausatmen.

Presseberichte

Das Medienecho auf die Parade der Gleichheit ist überwältigend. Hier eine kleine Presseschau von vor und nach der Parade, ohne den Anspruch der Vollständigkeit:

Süddeutsche Zeitung:
"Das Recht aufs Händchenhalten", 10.6.2006,
Ein Reportage von Jens Bisky über schwules Leben in Polen. Nicht nur wegen des tiefen Einblickes in die polnische Volksseele lesenswert.

die tageszeitung:
"Freundliche Invasion", 12.6.2006
Bericht von Jan Feddersen

Spiegel Online:
"Beck übt Solidarität mit polnischer Schwulenbewegung", 10.6.2006
Bericht von der Demo

"Wenn Abartige demonstrieren, brauchen sie den Knüppel", 9.6.2006
Vorberichterstattung mit Hinweis auf den Warschauer Pakt

Stern.de:
"Schwulen-Parade für mehr Rechte", 11.6.2006
Bericht von der Demo

Hier noch die Links zu den Berichten von anderen Medien:

Berliner Morgenpost, RP Online, Mitteldeutsche Zeitung, ORF, Hamburger MOPO, Donaukurier, Networld.at

Once in a lifetime

von Jens Bisky

Es war ein glücklichster Augenblick: Samstagnacht zur Abschlussparty im Kino „Skarpa“. Tomasz und Yga, die Organisatoren der „Parada Rownosci“, hatten die schwedischen Unterstützer auf die Bühne gebeten, dankten, versprachen eine Überraschung und gingen zur Seite. Auf der Leinwand erschien eine singende Blondine: „I'm nothing special, in fact ...“
Kurz jubelte die Menge auf, ein paar hundert Feuerzeuge entflammten, es wurde ungehemmt mitgeträllert. Den Freunden in der Nähe ging es nicht anders als mir: Sie kämpften mit ihrer Rührung, mehr oder weniger verschämt. Dergleichen würde in Berlin doch als allzu schwule Sentimentalität gelten.
Aber es war nichts Verlogenes an der Stimmung, vielmehr etwas Heiteres, Gelöstes, ganz und gar Freies. Die Anspannung war entschwunden und dem Staunen gewichen, dass wir es geschafft hatten.
Obwohl alles dagegen gesprochen hatte, war alles gelungen: Die Parade war genehmigt worden. Die Polizisten, vor einem halben Jahr noch Teil der Unterdrückungsmaschinerie, hatten unsere Demo umsichtig geschützt. Die Homophoben waren zu Wort gekommen, hatten brüllen und Transparente herzeigen dürfen, und sie hatten dabei verbiestert, armselig, in jeder Hinsicht klein gewirkt. Die Sonne hatte geschienen, viele, die sich zuvor nicht trauten, waren gekommen, hunderte Warschauer hatten freundlich gewunken. Und nun schien es, als würde ABBA höchstpersönlich im Skarpa „Thank You For The Music“ singen, vor ein paar Hundert Schwulen, Lesben und Freiheitsfreunden aus ganz Europa.
Nichts auf der Abschlussparty glich dem in Berlin oder London Üblichen, den perfekten, durchkommerzialisierten Abenden für Konsumenten. Es wirkte sehr improvisiert, dilettantisch: mit abscheulicher Tonanlage – Jimmy Somerville würde sich wenig später immer wieder vor ihr erschrecken; mit allzu wenig Licht auf der Bühne; mit längeren Programmpausen.
Aber es herrschte diese herrliche Stimmung wie schon am Nachmittag während der Kundgebung auf dem Theaterplatz. Da war das Gefühl der Solidarität, des Auf-den-Anderen-Aufpassen-Wollens, das aber ohne Gruppenzwang auskam. Da war eine stille Ernsthaftigkeit, die mit Heiterkeit einherging. Dem Charme der Demo waren die Homophoben nicht gewachsen. Man sah einfach, dass es unter Liberalen unverbiestert, ausgelassen und keineswegs langweilig zugeht. In den Ohren derer, die nicht dabei waren, mag es übertrieben klingen: Aber für die Dauer von „Thank You For The Music“ wirkte die Partymenge im Skarpa wie eine Ansammlung freier, glücklicher Menschen.
So etwas erlebt man selten. Man kann es nicht herbeizwingen und – wie die erste Liebe – kaum wiederholen. Aber die Aura scheint weiterzuwirken. Auf der Heimfahrt im Zug, stieg in Posen eine Gruppe älterer Polinnen zu, ärgerte sich, dass alle Plätze besetzt waren, schimpfte über die Schwulen, die da durch die Gänge drängten. Und es kamen immer mehr vorbei, mit dem typischen wiegenden Gang und dem untypisch beglückten Gesichtsausdruck. In Berlin hatten sich die Polinnen entspannt, lächelten und wünschten „Alles Gute“. In Warschau hat wohl etwas begonnen, das nicht mehr aufzuhalten scheint.

Nachtrag zum Abschlussbericht

I.
Martin Rosenberg hat im Kommentar zum Abschlussbericht auf eine ernste Situation zu Beginn der "Parade der Gleichheit" hingewiesen:
Bereits vor dem Parlamentsgebäude skandierten etwa 50 Gegendemonstranten (die allerdings nicht zur in einem anderen Post schon einmal erwähnten "Friedensparade" gehörten) homofeindliche Sprüche und hielten Transparente hoch. Der Platz war zu dieser Zeit schon sehr voll, da sich hier der Startpunkt der Parade befand. Nach Antwort aus den Reihen der Paradenteilnehmer flogen Eier.
Martin wies auch auf ein Phänomen hin, dass sich noch öfter auf der Parade wiederholte: Kaum tauchten die Gruppen von Gegendemonstranten am Rand der Demo auf, wurden sie umringt von Kameras, Journalisten und natürlich Polizisten. Ihnen wurde so ein hohes Maß an Aufmerksamkeit zu Teil, obwohl es sich meistens nur um kleine Grüppchen handelte.
Danke, Martin, für diese Hinweise.

II.
Auf der Rückfahrt berichteten zwei Teilneherinnen von der "Friedensparade", die einige Organisationen als Ersatz für die abgesagte große Gegendemo angemeldet hatte. Rechte Jugendliche und Skins gab es da nach diesen Angaben dort nicht, eher viele Familien. Gut für's Image der homophoben Paradengegner.

III.
Über die Teilnehmerzahl gehen die Meinungen auseinander. Sicher ist, dass es nicht 30.000 waren. Nach Angaben der Welt am Sonntag spreche die Polizei von 3.000 Demonstranten, die ARD (siehe Link) gibt eine Zahl von 5.000 an. Erfahrene Demoteilnehmer unter den Organisatoren des Warschauer Pakts 2006 schätzen etwa 6 bis 8.000.


In den nächsten Tagen werden hier in diesem Blog Mitstreiter und Freunde des Warschauer Pakts 2006 über ihre Erlebnisse auf der "Parade der Gleichheit" berichten.

Wenn im Abschlussbericht etwas fehlt oder Ihr von einem besonderen Vorkommnis auf der Parade berichten wollt, benutzt einfach die Kommentar-Funktion dieses Blogs.

Alle Warschau-Fahrer in Bussen des Warschauer Pakts 2006 sind übrigens heil nach Hause gekommen. Einer davon grüßt hiermit alle Leser und besonders die vielen Unterstützer und Unterstützerinnen, die nicht dabei sein konnten.

Hannes